Schwestern
Als meine Schwester Marion in Facebook als Kommentar auf meinen Beitrag „Das kleine Glück genießen“ folgendes schrieb:
„In mein Poesiealbum (haha, lange her) hat mal jemand geschrieben:
„Manchmal sucht man das Glück wie die Brille, die man dabei auf der Nase hat.“
Mit zunehmender Altersweisheit habe ich festgestellt, dass dieser Spruch tatsächlich stimmt. Glück findet nicht nur in den großen Momenten statt, sondern vor allem auch in den kleinen.
Liebe große Schwester Karin, es war für mich immer selbstverständlich, dass du da bist. Dass wir uns lieben und streiten konnten und dass du mir auf die Nerven gehen konntest und ich dir. Die schönen und lustigen Augenblicke, die unvergesslichen, die legendären und die, die unter uns bleiben 😉 Ich hoffe, wir können noch ganz viele tolle Momente erleben wie das ganz fabelhafte Stones Konzert am Montag.
Übrigens bin auch ich sehr froh, dass du im nettesten und liebsten Haus von ganz Köln gelandet bist. Ich weiß, die lieben Menschen dort passen gut auf dich auf „
war ich gerührt und irgendwie aufgewühlt und ließ unsere schwesterliche Zeit in Gedanken Revue passieren. Der weitaus größte Teil der über fünfzig Jahre die wir uns kennen, war schön und harmonisch, was sicher nicht alle Schwestern von sich behaupten können. Aber mal von Anfang an:
Mit ungefähr vier Jahren begann ich regelmäßig Zucker auf die Fensterbank zu streuen. Die Eltern hatten mir gesagt, dass die Kinder vom Klapperstorch gebracht werden. Der Storch wird vom Zucker angelockt und ist der nicht da, fliegt er vorbei und bringt das Kind woanders hin. Ich wollte so gerne einen großen Bruder (haha), aber eine kleine Schwester hätte ich auch gerne genommen. Mit sieben oder acht wurde ich eines besseren belehrt und erfuhr, dass es den Klapperstorch, zumindest in dieser Funktion, nicht gibt. Also gab ich auch das Zucker streuen auf.
Irgendwann hatte ich dann auch die Hoffnung aufgegeben und auch nicht mehr groß darüber nachgedacht. Schwanger wurde meine Mutter dann doch noch. Allerdings war ich bereits fast zwölf Jahre alt, als Marion zur Welt kam. Sie war so klein und zart und mit einem großen Kratzer auf der Nase und riesigen blauen Augen ausgesprochen niedlich. Ja, ich kann sagen, ich liebte sie von Anfang an, auch wenn es sich zeitweise um eine Haßliebe handelte. Ich steckte zu dieser Zeit schon mitten in der Pubertät, was ja alleine schon keine leichte Zeit ist. Zwölf Jahre Einzelkind, drehte sich jetzt alles um meine Schwester. Sie schrie die Nächte durch und um ein wenig Schlaf zu bekommen und halbwegs fit für die Schule zu sein, mußte ich aus unserem kleinen Zimmer ausziehen und im Wohnzimmer auf der Couch schlafen. Das nützte aber nur bedingt, weil ihr Geschrei leider nicht zu überhören war.
Wie ich schon einmal in einem früheren Beitrag schrieb, war unsere Mutter ziemlich egoistisch und später auch tablettenabhängig und mit dem Kind vollkommen überfordert. Sie ging mit Marion keinen Schritt vor die Tür. Dafür hieß es immer wenn ich zu meiner Freundin oder mich mit meiner Clique treffen wollte: „Nimm das Kind mit“. So lief ich in meiner frühen Jugend ständig mit dem Kinderwagen durch die Gegend. Was das für mich bedeutete, könnt ihr auch ja vorstellen.
Als ich dann mit knapp neunzehn (für damalige Verhältnisse sehr früh) zu Haus aus- und mit meinem Freund zusammen zog, war meine Schwester furchtbar traurig. Das schrieb sie damals einmal in einem Schulaufsatz, den ich zufällig lesen konnte. Inzwischen hatte sich unsere Mutter durch ihre Tablettensucht noch mehr zu ihrem Nachteil verändert. Die Ehe meiner Eltern stand auf der Kippe und es gab zu Hause ständig Streit. Meine Schwester floh aus dieser Situation zu mir und verbrachte fast jedes Wochenende bei uns. Sie ließ es auch über sich ergehen, dass mein Freund und späterer Ehemann Helmut sie ständig tadelte. Mal hatte sie unerlaubt ins Süßwarenfach gegriffen, mal die Käserinde zu dick abgeschnitten oder das frische, anstatt das alte Brot genommen. Das Schlimmste aber war, er las ungefragt in ihrem Tagebuch, was einen heftigen Ehestreit nach sich zog. Trotz alledem kam Marion gerne zu mir, weil alles immer noch besser war, als bei den Eltern zu Hause. Das Alles erzähle ich euch, damit ihr unser Verhältnis zueinander besser versteht. Es war eher eine „Mutter-Kind-Beziehung“, als eine geschwisterliche.
Unsere Mutter starb an einer Überdosis ihrer Sch…. Tabletten als Marion vierzehn Jahre alt war. Vater starb nur drei Jahre später an einem Herzinfarkt. Nun waren wir beide fast alleine auf der Welt und ich bekam, für das letzte Dreivierteljahr bis zur Marions Volljährigkeit, die Vormundschaft. Sie blieb aber, zunächst mit ihrem Freund und später zusammen mit einer Freundin in der elterlichen Wohnung. Zu dieser Zeit ging es uns beiden finanziell nicht sehr gut und Marion mußte viel zu schnell lernen erwachsen zu sein. Unser Verhältnis war auch zu dieser Zeit immer noch sehr eng und blieb es auch. Die Männer in unserem Leben wechselten, aber wir blieben zusammen, hatten selten Streit und wenn, dann nur harmlosen, der schnell wieder vergessen war.
Dann machte ich Jahrzehnte später einen Fehler, der mir heute noch von Herzen leid tut und der sich mit Sicherheit niemals wiederholen wird. Auf einer Geburtstagsfeier hatte ich mich geärgert über meine Schwester und, leicht alkoholisiert, gab ich dann vor versammelter Mannschaft etwas von Marion zum besten, dass für anderer Ohren nicht bestimmt und ein Geheimnis zwischen uns beiden bleiben sollte. Es kam zum größten Streit in unser beider Leben. Wir verletzten uns gegenseitig und gingen dabei derart unter die Gürtellinie, dass wir uns mehr als zwei Jahre lang nicht sahen. Ich habe gelitten wie ein Hund und kann sagen, dass diese Zeit zu der Schwersten meines Lebens gehörte. Trotzdem schafften wir es irgendwie nicht, aufeinander zuzugehen.
Doch irgendwann rief Marion mich an und besuchte mich ein paar Tage später. Wir mußten uns nicht verzeihen, waren einfach nur froh, dass wir uns wieder hatten. Einen Vorteil aber hatte es: Wir redeten viel mehr über unsere Gefühle und schworen uns, wenn uns einmal etwas nicht paßt, direkt darüber zu sprechen. Auf einmal waren wir, vielleicht zum ersten Mal in unserem Leben, Schwestern auf Augenhöhe. Das ist nun auch schon wieder einige Jahre her und als mein Mann vor zwei Jahren starb, zog ich zurück nach Köln und in die Nähe meiner Schwester. Diesmal bin ich es, die ab und zu ihre Hilfe braucht.
Eins steht fest: Meine Schwester ist die größte und stärkste Liebe meines Lebens. Andere Menschen kommen und gehen, sie bleibt und ich möchte ihr heute einmal sagen:
„Schön das es dich gibt meine Kleine.“