Lebenslinien,  Zeitzeugen

70 Jahre Leben – 1970 bis 1975: Zwischen Vietnamkrieg und Friedensbewegung

Die 70er Jahre waren wohl das spannenste und ereignisreichste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Das Lebensgefühl dieser Zeit war unbeschreiblich. Meine Generation wurde erwachsen und immer aufmüpfiger. Wir wollten alles ändern und endlich raus aus dem Mief und der Prüderie unserer Eltern.

 

Lehrjahre sind keine Herrenjahre …

… so sagte man damals und es stimmte. Ende der 60er Jahre hatte ich eine Ausbildung zur Zahnarzthelferin begonnen. Es war vollkommen normal, dass ich, wenn der letzte Patient gegangen war, aufräumte, die Instrumente sterilisierte und die Praxis putzte. Diese Tatsache trug nicht gerade dazu bei, meinen Ausbildungsplatz zu lieben.

Meine LeserInnen erinnern sich sicher an den Ausspruch meines Vaters, als es um den Wechsel auf eine weiterführende Schule ging: „Du bist hübsch, du heiratest sowieso“. Folglich hatte ich nur einen Hauptschulabschluß. Auch in der damaligen Zeit war damit die Auswahl der Lehrberufe begrenzt. Als Kind wollte ich gerne Säuglingsschwester werden. Als Teenager, und bis heute, wäre ich gerne Innenarchitektin geworden. Für den ersten Beruf hätte ich zumindest einen Realschulabschluß, für den zweiten ein Studium gebraucht. Eine meiner Freundinnen hatte ihre Lehre bei einem Zahnarzt begonnen. Dort wurde noch eine Auszubildende gebraucht, also lernte ich eben das.

 

Ich bin dann mal weg

Anfang der 70er Jahre wurden die Verhältnisse bei uns zu Hause extrem schlimm. Nach einem Vorfall, den ich hier nicht näher erläutern möchte, nahm ich meine Tasche mit meinen Papieren und ein bißchen Geld, ging und kam wochenlang nicht mehr zurück. Ich übernachtet hier und da bei Freundinnen, sammelte (ihr werdet es nicht glauben) auf der Domplatte Geld – „haste mal ne Mark“. Oft hatte ich genug Geld für Essen und eine Übernachtung. Oft wurde ich mit Drogen konfrontiert und auch mit netten jungen Männern, die mir Kleider kaufen und mich mit nach Hamburg nehmen wollten (wozu wohl). Mein Überlebenswille war aber immer stark genug all dem zu widerstehen.

Irgendwann verliebte ich mich und wohnte fortan bei meinem Freund und seiner Familie. Ich suchte mir eine Arbeit und fand einen Job bei Herbol, einer Farbenfabrik. Dort war ich im Versuchslabor für Farbtests zuständig. Irgendwie spürte meine Mutter mich auf und stand auf einmal vor der Türe meines Freundes. Ich sagte ihr, dass ich nicht mit nach Hause kommen würde und sie zog unverrichteter Dinge wieder ab.  Dummerweise hatte ich ihr gesagt wo ich arbeite. Als ich im Lohnbüro mein Gehalt abholen wollte, hatte sie das Geld bereits geholt. Anscheinend war ihr das Geld wichtiger als ich, aber das war ja nichts neues. Nach einem Streit mit meinem Freund gab ich auf und kehrte zu meinen Eltern zurück. Dort wurde ich aufgenommen, als wäre nichts gewesen. Es fand keine Aussprache statt und alles ging weiter wie zuvor.

Natürlich hatte inzwischen mein Lehrherr den Ausbildungsvertrag gekündigt. Auch wegen meiner guten Noten (nur Einsen und Zweien) in der Berufsschule, fand ich recht schnell einen Zahnarzt, der mich übernahm und ich konnte meine Ausbildung fortsetzen. Irgendwie überstand ich diese Zeit und wechselte anschließend als Kontoristin in eine der ältesten Speditionen Kölns. Da es sich bei der Ausbildung zur Zahnarzthelferin um eine kaufmännische handelt und ich u.a. Buchhaltung gelernt hatte, war der Wechsel ins Büro ein Leichtes. Büroarbeit lag mir, die gerne mit Papier arbeitet und gerne organisiert, schon immer sehr.

Schon in dieser Zeit tanzten wir an den Wochenenden in Discotheken wie dem „Big Apple“ in Köln oder dem legendären „Whiskey-Bill“ in Rösrath-Forsbach. Doch die große Disco-Zeit sollte erst noch kommen.

 

Ich wollte dann mal verheiratet sein

Meine Eltern wohnten in den 50er Jahren in Köln-Bilderstöckchen bei den Eltern meines Vaters. Es gab in dieser Zeit – so kurz nach dem Krieg – nur wenig Wohnraum. Trümmer der zerbombten Häuser waren in meiner Kindheit noch allgegenwärtig. 1958, ich war vier Jahre alt, bekamen wir eine Neubauwohnung in der Kölner Innenstadt (Kyffhäuserstrasse, dem heutigen Studentenviertel) vom Wohnungsamt zugewiesen. Mein späterer Mann wohnte mit seinen Eltern im Haus schräg gegenüber und war zu diesem Zeitpunkt fünf Jahre alt.

Als wir beide Jugendliche waren, konnte ich ihn eigentlich nicht sonderlich leiden. Während meiner Zeit „auf der Straße“ hatte er mich gesucht und auch gefunden und wir unterhielten uns lange. Später, nachdem ich wieder bei den Eltern wohnte, haben wir uns dann einige Male getroffen, gingen aus und verliebten uns ineinander. Als ich 19 war beschlossen wir zusammen zu ziehen. Es war kein einfaches Unterfangen als unverheiratetes Paar eine Wohnung zu bekommen. Auch die Tatsache, dass wir damals erst mit 21 volljährig wurden, war der Sache nicht unbedingt förderlich. Nach langem Suchen bekamen wir dann doch eine schicke Neubauwohnung im Kölner Vorort Meschenich. Wir zogen in einen damals absolut hippen Wohnpark mit insgesamt 7 kleineren und grösseren Hochhäusern. In der fünften Etage hatten wir freien Blick auf die Voreifel. Ihr könnt euch nicht vorstellen wie stolz und glücklich wir waren.

Mein Schwiegervater inspe arbeitete bei den Fordwerken. So kamen wir günstig an Fahrzeuge. Zur damaligen Zeit fuhren wir einen Ford-Capri.

 

Der Capri und ich

 

Der damaligen Mode entsprechend kauften wir uns schwarze Anbaumöbel. Die vorherrschenden Farben drumherum waren Orange und Grün.

Urlaub auf Mallorca

Die Buchung unseres ersten gemeinsamen Urlaubs in Spanien gestaltete sich schwierig. Nicht alle Hotels waren bereit einem unverheirateten Paar ein Doppelzimmer zu vermieten. In diesem Land war es zu dieser Zeit sogar verboten, sich öffentlich zu küssen. Obwohl wir bereits die 70er Jahre schrieben, war die Zeit prüde wie eh und je.

Am 30. Dezember 1975 heirateten wir dann. Bis heute weiss ich nicht mit Sicherheit, ob ich aus Liebe geheiratet habe oder ob ich einfach verheiratet sein wollte. Allerdings waren in dieser Zeit Eheschliessung in so jungen Jahren keine Seltenheit.

 

Wir feiern Hochzeit

 

Manche Frau weint, weil sie den Mann ihrer Träume nicht bekommen hat, und manche Frau weint, weil sie ihn bekommen hat. (Annette Kolb)

 

Hier enden Märchen normalerweise, aber ein Märchen war es leider nicht. Wie es weiter geht lest ihr nächsten Monat im 2. Teil.

 

Musik und Filme

Die Musik war in dieser Zeit so vielseitig, wie selten zuvor. Leider spielten auch Drogen, gerade in der Musikszene, eine große Rolle.

  • Die Beatles trennen sich 1970. Janis Joplin und Jimi Hendrix, die großen Stars des „Summer of Love“ starben an Überdosen Drogen.
  • 1971 wird Jim Morrison tot in seiner Badewanne gefunden. Nach gut eineinhalb Jahren Streit versöhnen sich die Bee Gees.
  • 1974 gewinnt die Gruppe ABBA den Eurovision Song Contest. Damit begann für sie eine große, internationale Karriere.
  • Bruce Springsteen schafft 1975 den Durchbruch mit dem Album „Born to run“.

Wir hörten u.a. „House of the Rising Sun“ von Frijid Pink. Peter Maffey landete ein Hit mit dem Song „Du“. „Stairway to Heaven“ von Led Zeppelin gilt als die schönste Rockballade der 70er Jahre. „Imagine“ von John Lenon ist der visionärste Hit dieser Zeit und bis heute gern gehört. Das innovativste neue Genre waren wohl Kraftwerk mit „Autobahn“.

Im Netz ist zu lesen: 1971 war das Jahr, in dem Musik alles veränderte. Popmusik war erwachsen geworden und vieles, was die Stars heute für selbstverständlich erachten, nahm damals seinen Anfang.

Wir schauten großartige Filme in den Kinos. Hier nur ein kleiner Ausschnitt: Uhrwerk Orang, Der Pate, Harold and Maude, Der weiße Hai, Rocky Horror Picture Show, Einer flog übers Kuckucksnest, Der Exorzist, Mein Name ist Nobody, Der Clou, Chinatown und Lovestory.

 

Mode und Lifestyle

Anfang der 70er Jahre prägte noch die Hippiemode aus den 60ern die Mode. Wir trugen viele florale Muster, Hippie- und Folklorekleider, Fransenwesten, Cordhosen mit Schlag, dazu Trapper (flache Knöchelhohe Wildlederschuhe). Alte Bundeswehrparkas, Batikshirts und Rüschenhemden zierten die Männerkörper.

Später zeigten wir Mädchen uns in hautengen Overalls, Maxikleidern, Lederminiröcken und Schuhen mit Plateausohlen. Meine höchsten Schuhe hatten einen Absatz von 16 cm und 8 cm Plateau. Das ich mir damals nicht die Beine gebrochen habe, wundert mich bis heute.

Der große Aufreger für unsere Elterngeneration waren Hotpants. Die extrem kurzen Hosen, getragen mit neonfarbenen gerippten Oberteilen, galten als unanständig. Ich trug sie trotzdem.

Die Jungs setzten weiter auf hautenge Schlaghosen und ebenso enge Hemden mit Dackelkragen.

Wir hatten einen WEGA Farbfernseher (sehr spacig) mit Fernbedienung. Wenn wir „fernbedienten“ gingen die Regler rauf und runter – welch ein Spaß.

 

Der WEGA Fernseher

 

Es war die Zeit der großen Fernsehshows, wie „Am laufenden Band“, „Der große Preis“, „Musik ist Trumpf“ oder im Osten „Ein Kessel Buntes“ usw.

Der erste „Tatort“ wurde 1970 ausgestrahlt. „Disco“ mit Ilja Richter war Kult. Wenn ich heute eine Wiederholung oder Ausschnitte aus dieser Sendung sehe, kommt es mir wie Satire vor und ich kann mir das Lachen nicht verkneifen.

Es war die große Zeit von Loriot. Niemand zeichnet ein besseres, wenn auch überspitztes Bild, der 70er Jahre.

In unseren Wohungen waren futuristische, spacige Designs angesagt. Möbel aus Kunststoff, Makrame und der Flokati-Teppich durften nicht fehlen.

Auf Partys tranken wir Bowle, Kalte Ente und Kullerpfirsich und servierten unseren Gästen Mett- und Käseigel.

 

Die wichtigsten Ereignisse in dieser Zeit

Die 70er Jahre waren geprägt von technologischem Fortschritt, wie der Entwicklung des ersten Personal Computers, dem Aufkommen von Videorekordern und dem Beginn der Verbreitung des Internets.

Der Kniefall von Warschau ereignete sich am 7. Dezember 1970 in Warschau, der Hauptstadt der Volksrepublik Polen. Der deutsche Bundeskanzler Willy Brandt besuchte die Stadt, um dort den Warschauer Vertrag zu unterzeichnen, der das Verhältnis zwischen der Bundesrepublik und der Volksrepublik regeln sollte. Teil des Staatsbesuchs war eine Kranzniederlegung am Ehrenmal für die Helden des Warschauer Ghettos. Dort sank Brandt unerwartet auf die Knie, eine Geste, die als Bitte um Vergebung für die deutschen Verbrechen des Zweiten Weltkriegs verstanden wurde.

In den 70er Jahren hielt die „Rote Armee Fraktion“ Deutschland in Atem. Entstanden ist der Linksterrorismus in den späten 60er Jahren. Nach dem Tod von Benno Ohnesorg und dem Attentat auf Rudi Dutschke radikalisierte sich die Gruppe und begann zu Töten. Das erste Opfer war 1971 der Polizist Norbert Schmid. 1972 gibt es bei Anschlägen der RAF auf den Springer Verlag und mehrere Polizeistationen mehrere Tote und Verletzte.

Eines der tragistischsten Ereignisse begab sich während der Olympischen Spiele in München. Elf israelische Sportler wurden von der palästinensischen Terrororganisation „Schwarzer September“ als Geiseln genommen und anschließend getötet. Der Angriff fand am 5. September 1972 statt und löste weltweites Entsetzen aus. Auch mir haben sich die schrecklichen Bilder unwideruflich in meine Erinnerung eingebrannt.

Der Watergate-Skandal in den USA führte zur Resignation des Präsidenten Richard Nixon. Es ging um den Einbruch in das Hauptquartier der Demokratischen Partei und die anschließende Vertuschung durch die Nixon-Regierung.

1973 wurde die erste Ölkrise durch den Jom-Kippur-Krieg, bei dem Ägypten und Syrien Israel angriffen, ausgelöst. Die OPEC beschloß ein Ölembargo gegen Staaten, die Israel unterstützten, was einen drastischen Anstieg der Ölpreise zur Folge hatte. Dies hatte weltweit wirtschaftliche Auswirkungen und führte zu Benzinrationierungen und einer Rezession. In Deutschland hatten wir zu dieser Zeit Sonntagsfahrverbote. So schlimm die hohen Ölpreise auch waren, so hatten die autofreien Sonntage auch sehr viel schönes. Es war ruhig und Fahrräder bevölkerten die Hauptverkehrsstraßen und Autobahnen. Das würde mir heute auch ab und zu gut gefallen.

Deutschland gewann 1974 die Fußball-Weltmeisterschaft. Das Endspiel gegen die Niederlande wurde als Finale des Jahrhunderts bekannt. Ein weiteres legendäres Sportereignis war der Schwergewichtskampf zwischen Muhammed Ali und Gerge Foreman . Der Kampf ging als „Rumble in the Jungle“ in die Sportgeschichte ein.

Der Vietnamkrieg, der auch in Deutschland zu massiven Protesten geführt hatte, endete 1975 mit dem Sieg Nordvietnams und der Wiedervereinigung des Landes unter kommunistische Führung. Der Krieg hatte große Auswirkungen auf die USA und die internationale Politik.

Das „Zeitalter des Wasermanns“ förderte die Entspannungspolitik zwischen den Ost- und Westmächten. Die europäische Union wurde gegründet.

Kulturelle Bewegungen, wie die Hippies, die Punks und die Disco-Ära prägten das gesellschaftliche Leben.

 

Natürlich kann mein Beitrag keinen Anspruch auf Vollständigkeit haben. Es ist schier unmöglich alle Ereignisse hier niederzuschreiben. Die 2. große Frauenbewegung fand auch in den 70ern statt. Sie hat sehr viel bewirkt, zuviel um hier in den Beitrag zu passen. Dieser Teil der Geschichte hat das Recht auf einen eigenen Beitrag, der in Kürze folgen wird.

Für alle, denen es Spaß macht, ein wenig in der Vergangenheit zu schwelgen: Nächsten Monat geht es weiter mit den Jahren 1976 bis 1979.

 

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