Weniger arbeiten, schön, aber auch sinnvoll? – Gedanken einer Rentnerin, die noch denken darf
Weniger arbeiten, dieser Satz klingt für viele wie eine Verheißung. Für mich, im Ruhestand, ist es längst Realität und ja, ich kann bestätigen: Es ist tatsächlich schön. Kein Wecker mehr, der um 6:30 Uhr brüllt, keine Meetings, keine Deadlines. Stattdessen Kaffee auf dem Balkon, ein gutes Buch und gelegentlich ein Blick auf die Nachrichten, in denen wieder jemand fordert: „Die 4-Tage-Woche muss her!“ Ja, es wäre schön. Denn mein Wecker klingelt weiterhin, nur eben erst um 7:30 Uhr. Luxus, ich weiß. Ich arbeite nämlich immer noch. Ein Minijob, damit ich mir hin und wieder etwas leisten kann, das über das absolute Minimum hinausgeht, ein Konzert, mal ins Theater oder Essen gehen. Trotz eines Lebens mit Vollzeitarbeit reicht meine Rente nicht aus, um mir diese kleinen Freuden einfach so zu gönnen. Die steigenden Kosten für Miete, Lebensmittel und alles andere, was man zum Leben braucht, tun ihr Übriges. Wer sagt eigentlich, dass Inflation nicht auch eine Form von Erwerbszwang ist?
Müßiggang ist aller Laster Anfang?
Ich gönne es der jüngeren Generation ehrlich von Herzen. Wer mit Mitte 30 schon die dritte Erschöpfungskrise hinter sich hat, darf sich ruhig fragen, ob 40+ Stunden Arbeit pro Woche wirklich der Weisheit letzter Schluss sind, aber ich bin auch Teil einer Generation, die sich – sagen wir mal – ein bisschen abgerackert hat. Arbeiten bis zum Umfallen galt nicht als übertrieben, sondern als normal. Als ich ins Berufsleben einstieg, hatten wir noch die 48 Stunden Woche und arbeiteten auch am Samstag, also 6 Tage in der Woche. Rente war ein Ziel, kein Menschenrecht ab 30. Und heute? Jetzt, wo ich den Müßiggang fast genießen könnte, frage ich mich: Wenn alle weniger arbeiten, wer macht dann eigentlich die Arbeit?
Wirtschaft auf Sparflamme?
Klar, kürzere Arbeitszeiten können positive Effekte haben. Mehr Lebensqualität, weniger Krankheitstage, höhere Produktivität, das sagen zumindest diverse Studien. Aber weniger Arbeitsstunden bei gleichem Wohlstand, das ist ein mathematischer Zaubertrick, den bisher noch niemand überzeugend vorgeführt hat.
Weniger Arbeit heißt im Zweifel auch weniger Einnahmen für den Einzelnen, für Unternehmen, für den Staat und das kann sich ganz schnell auf Bildung, Infrastruktur oder (hoppla) auf die Rente auswirken. Also auf mich.
Zwischen Wunsch und Wirklichkeit
Der Gedanke, dass Menschen mehr Zeit für sich, für Familie oder freiwilliges Engagement haben, ist wunderbar. Vielleicht muss Arbeit in Zukunft einfach neu gedacht werden, flexibler, menschlicher, gerechter verteilt, aber dabei dürfen wir nicht vergessen, ein Land funktioniert nicht mit Teilzeitträumen allein. Es braucht Menschen, die sich engagieren, auch beruflich, sonst stehen wir bald mit frisch gebackenen Sauerteigbroten am Fenster und wundern uns, dass der Bus nicht mehr kommt. Weil der Busfahrer gerade seinen freien Freitag hat.
Fazit: Schön wär’s, aber schön allein reicht nicht
Weniger arbeiten ist eine großartige Idee, für den Einzelnen, kurzfristig. Doch wenn wir langfristig alle davon profitieren wollen, braucht es mehr als gute Vorsätze. Es braucht ein neues Gleichgewicht zwischen Arbeit und Leben, zwischen Wunsch und Wirklichkeit und vielleicht auch eine ehrliche Diskussion darüber, was wir als Gesellschaft bereit sind zu geben und zu lassen, worauf wir bereit sind zu verzichten.
In der Zwischenzeit klingelt mein Wecker um 7:30 Uhr und ich danke all jenen, die morgens noch früher rausmüssen, damit ich mir vielleicht auch mal ein Konzert leisten kann, ohne das Gefühl, mir dafür einen kleinen Luxus-Kredit aufnehmen zu müssen.



4 Kommentare
Petra Plaum
Ich (JG 1972) klatsche Applaus. Ich arbeite seit Jahren weitaus mehr als 40 Stunden pro Woche und sehe mich noch mit 70 in Lohn & Brot, hoffentlich nicht in Vollzeit … Klar bin ich dafür, dass 30-Stunden-Wochen möglich sind, aber bei vollem Gehaltsausgleich wird das nicht gehen. Und viele spannende Jobs funktionieren nicht in 15-Stunden-Wochen. Just my 2 cents …
Sabine Gimm
Hinzu kommt noch, dass oft auf uns Babyboomer geschimpft wird. Wir haben uns nun wirklich viele Jahre „abgerackert“. Wenn alle weniger arbeiten, wer zahlt dann eigentlich in die Rentenkasse? Ich kann es aber verstehen, dass nicht jede(r) Vollzeit arbeiten kann. Geht mir auch so. Und ich hoffe, dass ich tatsächlich mit dem Renteneintritt nicht mehr arbeiten muss.
Liebe Grüße
Sabine
alex
Wenn die Rente NICHT reicht,hat man zu wenig eingezahlt!!!!!
Es nennt sich Rentenversicherung…nicht Anwesenheitsgeld
Ich habe über 3k Rente…so what???
Falschen Job..a la Liebhaberei….
Früh genug informieren bei der DRK hilft
Karin Austmeyer
Alex, was bist du doch für ein Witzbold. Ich war Chefsekretärin und zuletzt selbständig als Webdesignerin, Habe meinen Mann gepflegt, etwas wofür sich die Männer in den meisten Fällen nicht zuständig fühlen. Das hat mich einiges an Rentenpunkten gekostet. Deshalb verbiete ich mir eine Bemerkung wie „Liebhaberei“. Ist es Liebhaberei, wenn man z.B. in der Pflege arbeitet, Krankenschwester ist und relativ wenig verdient. Wer putzt denn deinen Arsch, wenn es einmal so weit ist? Das macht dann die nette Pflegerin, weil ihr das so viel Spaß macht, aus Liebhaberei.
Ich habe eine gute Rente – trotzdem, nur ist alles so teuer geworden (Mieten, Nebenkosten, Lebensmittel), daß ein Zubrot für den kleinen Luxus angebracht ist.